Alte Sorten by Arenz Ewald

Autor:Arenz, Ewald [Arenz, Ewald]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2019-03-16T16:00:00+00:00

22. September

Sally hatte den Brief geschrieben. Sie war mit dem Fahrrad in das Städtchen gefahren, hatte eine Briefmarke am Automaten im Städtchen gekauft und ihn dann noch ein paar Dörfer weiter eingeworfen. Hallo macht euch keine Sorgen ich bin eine Zeit lang bei einer Freundin braucht nicht nach mir zu suchen alles gut. Was man eben so schrieb, wenn man gar nicht schreiben wollte. Das Wort Freundin zu schreiben war seltsam gewesen.

Trotzdem hatte sie ein komisches Gefühl. Seit über drei Wochen war sie bereits hier. Eigentlich nichts Besonderes. Sie war schon viel länger weg gewesen, ohne dass sie einen Brief geschrieben hätte. Die Sommercamps, die sie nicht gemocht hatte. Seit sie zwölf war. Fast jedes Jahr. Und dann die Kliniken, die meistens nicht so hießen, sondern Gesundheitszentren oder Rehabilitationszentren oder so. Da waren es schon sechs oder acht Wochen gewesen, und sie hatte nicht geschrieben, obwohl man da manchmal am Anfang kein Handy haben durfte und sie zum Telefonieren keine Lust hatte. Das komische Gefühl war ein anderes.

Sie war im Birnengarten und dachte nach. Der Vormittag war so, wie sie ihn mochte. Andere wollten es immer sonnig und heiß haben. Sie mochte es, wenn es windig und kühl war; eben so kühl, dass man den Wind auf der Haut spüren konnte, ohne zu frösteln. Und heute war der Wind stark. Er bewegte die Kronen der Birnbäume, obwohl die alle nicht so hoch waren und eigentlich von der Mauer des Gerätehauses geschützt waren. Das Sonnenlicht kam und ging in schnellem Wechsel, weil die Wolken vom Wind rasch über einen blauen Himmel getrieben wurden, als hätte er es eilig, sie irgendwohin zu bringen. Ab und zu fiel eine vergessene Birne dumpf ins Gras. Die Bienen flogen manchmal ein Stück rückwärts, wenn ein stärkerer Windstoß sie mit sich nahm. Ja, dachte sie, vielleicht deshalb. Vielleicht kam das komische Gefühl daher, dass sie das erste Mal seit ihrer Kindheit für längere Zeit an einem Ort war, von dem sie nicht sofort wieder wegwollte. Sie hob eine Birne aus dem hohen Gras auf und sah sie an. Birnen würde sie nie wieder so ansehen wie früher. Sie war rot und gelb gestreift, und Sally versuchte, sich an den Namen zu erinnern, aber eigentlich war das nicht wichtig. Sie hatte eine Delle, da, wo sie aufgetroffen war, aber sonst sah sie perfekt aus. Sie biss langsam in sie hinein, ließ den Saft einfach übers Kinn laufen und erkannte den Geschmack sofort. Es war dieselbe Birnensorte, die sie am ersten Morgen aus der Schüssel mit den Früchten gefischt hatte. Sie musste auf einmal grinsen. Okay, dachte sie, Liss ist eine Hexe mit Birnen statt mit Lebkuchen.

Liss. Was war mit der? Sie biss noch einmal ab, dann warf sie die Birne weg, auch wenn sie Lust gehabt hätte, sie ganz zu essen. Oder vielleicht deshalb. Egal. Was war mit Liss?

»Ey du, was machst du da in dem Garten?«

Sally fuhr erschrocken herum und ärgerte sich sofort über sich selbst. Sie hatte keinen Grund zu erschrecken. Sie durfte hier sein. Der Ruf war von der Schulseite gekommen.

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